Ganz allein in eine fremde Welt
VON URSULA GROSSE BOCKHORN (Wilhelmshavener Zeitung vom 28. Februar 2015, Seite 9, Foto: Gabriel-Jürgens)
WILHELMSHAVEN - Es war ein weiter Weg nach Wilhelmshaven und auf die Schulbank in der Franziskusschule für Reza Rezai. An seine ursprüngliche Heimat in Afghanistan kann sich der 19-Jährige gar nicht erinnern. In seinem ersten Lebensjahr habe seine Familie vor Mudschaheddins fliehen müssen, hat ihm seine Mutter erzählt. Seither lebten die Afghanen als Flüchtlinge im Iran. Ohne irgendeine Perspektive, sagt Reza. Bis die Mutter beschloss, dass einer ihrer beiden Söhne in Europa sein Glück versuchen sollte. Die Wahl fiel auf Reza, den Älteren. Vor vier Jahren machte er sich auf den Weg – als 15-Jähriger und buchstäblich mutterseelenallein.
Er schaffte es, über die Grenze in die Türkei zu kommen und weiter nach Griechenland, Italien und Frankreich. „Ich hatte keine Vorstellung, wie man in Europa lebt“, sagt er. In Italien habe ihm ein Mit-Flüchtling erzählt, dass es in Schweden vergleichsweise leicht sei als Fremder Fuß zu fassen. Deshalb sei er eigentlich nur auf der Durchreise gewesen, als ihn die deutsche Polizei stoppte. Wie so viele landete er erst einmal in Dortmund. Die dortige Einrichtung für Erstaufnahmen ist zu einem Drehkreuz für Flüchtlinge aus aller Welt geworden. Ein paar Wochen sei er dort geblieben und habe die ersten Deutschen kennen gelernt, erzählt er. Dann ging es weiter. Für Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Iran ist das Durchgangslager Friedland im Landkreis Göttingen inzwischen die zentrale Erstaufnahmestelle. So kam Reza nach Niedersachsen.
Als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, wie es im Behördendeutsch heißt, wurde er vom Jugendamt Göttingen in Obhut genommen. Allerdings schätzten ihn die Aufnahmebehörden zwei Jahre älter ein, als er nach eigenen Angaben ist. „Ein Fehler“, sagt Reza, der allerdings älter und reifer wirkt als die meisten deutschen Altersgenossen, ob sie nun 19 oder 21 Jahre alt sind. Vor zwei Jahren wurde er dann nach Wilhelmshaven weiterverwiesen.
Als erstes hieß es für ihn, Deutsch zu lernen. Mit dem Erfolg ist er noch nicht zufrieden. „Mir fehlen so oft noch die Vokabeln.“ Immerhin reichten seine Sprachkenntnisse, um an den Berufsbildenden Schulen Friedenstraße am Unterricht der neunten Klasse teilzunehmen und den Hauptschulabschluss zu schaffen. Durch ein vierwöchigen Praktikum lernte er die Franziskusschule, die katholische Oberschule, kennen. Der Test, ob er in eine Realschulklasse wechseln kann, gelang. Inzwischen hat er in seiner persischen Muttersprache schon die Prüfung bestanden, die ihm den Weg zum Abitur ebnet.
Am liebsten würde er Künstler werden. Die Eignung dazu hätte er, meinen die Lehrer. Seine Bleistiftzeichnungen lassen sein Talent ahnen. Und wenn sie ihn in der Pause in Antoine de Saint-Exupérys Buch „Der kleine Prinz“ versunken sehen, sind auch seine literarischen Neigungen erkennbar, selbst wenn ihm die Gedichtinterpretationen im Unterricht noch etwas Mühe machen. Da fehle einfach der Wortschatz, um seine Gedanken angemessen auszudrücken. Dafür schreibt er Kurzgeschichten auf Persisch.
Wichtig sei, dass Reza private Kontakte knüpfen könne, ist man sich in der Schule einig. Er wohnt allein in einer kleinen Wohnung, finanziell vom Jobcenter unterstützt. In einem Fitnessstudio treibt er Sport. Aber Freunde, mit denen er Meinungen und Erfahrungen austauschen oder einfach etwas unternehmen kann, hat er noch nicht gefunden. Eine Familie, die ihm die deutsche Lebensweise und Kultur näherbringt und zeigt, wie der Alltag in diesem Land abläuft, könnte ihm bei seiner Integration wesentlich helfen, sagt Lehrerin Magdalena Heiser-Schuh, die ihn ein wenig unter ihre Fittiche genommen hat. Ebenso als Unterstützer wären willkommen Künstler oder künstlerisch Interessierte, die ihn an die europäische Kunst heranführen. „Er ist jung. Da kann er doch abends, am Wochenende und in den Ferien nicht allein in seiner Wohnung bleiben“, so die Lehrerin. Sie will jetzt auch dafür sorgen, dass Reza nach zwei Jahren endlich die Umgebung von Wilhelmshaven entdeckt. „Er war noch nicht einmal in Hooksiel. Das ist doch einfach unvorstellbar.“
Für die Sommerferien aber hat sich Reza etwas anderes vorgenommen. Dann möchte er gern in den Iran fliegen. Seit vier Jahren hat er seine Mutter nicht gesehen, nur per Telefon Kontakt gehalten. In seiner heimatlichen Kultur sei das ein Unding, sagt er. Da blieben die Generationen zusammen. Für ihn aber würde es ein Besuch auf Zeit, bis zur Rückkehr nach Deutschland. Er hat einen gültigen Reisepass und eine Aufenthaltsgenehmigung bis 2017. Und er ist zuversichtlich, dass es für ihn auch darüber hinaus eine Zukunft in Deutschland gibt.